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Zum Werk, von Andreas Steffens, Kurator

 

Nichts als man selbst oder Alles, was man braucht Jetzt haben Wasser und Sonne mich schon gedrechselt und mit einer Hülle versehen, und auch daraus meine ich zu begreifen, daß die Natur das menschliche Nackte nicht duldet und sich mit all ihren Mitteln - wie sie es mit den Kadavern tut - bemüht, es sich anzugleichen. Aber dazu braucht sie Zeit, und ich müßte Tag und Nacht von ihr umgeben sein. Jeden Tag jedoch erscheine ich wieder, ziehe mich aus und bin wieder nackt. So behaupte ich mich ihr gegenüber und überlasse mich zugleich ihren Blicken mit so viel Genuss, wie ich aufbringen kann. Hier gibt es eine kleine Bucht mit hohen Sumpfgräsern, immer im Schatten, wo ich manchmal umhergehe. Die Gräser reichen mir bis an den Bauch, und die Füße waten im Wasser, aber nicht die Kühle suche ich. Ich gehe hinein, um mich zu verbergen und plötzlich wieder herauszukommen, nackter als zuvor.
Cesare Pavese, Nacktheit

Der nackte Mensch ist der Mensch ohne den Schutz kultureller Rüstungen gegen die Gefahren und Unannehmlichkeiten der Natur. Er befindet sich inmitten der Kultur in einem Quasinaturzustand. Daher rührt die Verwirrung, die die Nacktheit weckt: es ist die Erscheinung des leiblichen Stoffes der Person für einen Zustand, den es nicht mehr gibt. Denn der Naturzustand des Menschen ist seine Kultur. Der nackte Mensch ist ein Mensch außerhalb seiner Welt. Sein Naturzustand ist das Bekleidetsein.

Die Nacktheit ist kein Zustand. Ihre Erfahrung setzt Kommunikation voraus. Der unbekleidete Mensch in der Intimität seiner Häuslichkeit erfährt die Nacktheit nicht allein mit sich. Nackt ist man nur im Blick des anderen, oder im eigenen Blick auf das Spiegelbild des eigenen nackten Körpers, der den Blick des abwesenden anderen repräsentiert. Wirklich nackt kann man nur für einen anderen sein. In dem Moment nämlich, in dem wir uns als den, der wir sind, zu erkennen geben, sei es absichtsvoll oder zufällig, gewollt, oder unkontrolliert. Deshalb lässt Pavese die Gedanken des Icherzählers in seiner Erzählung >Nacktheit< beständig um den abwesenden Blick anderer kreisen, die ihn in seiner Nacktheit wahrnehmen könnten.

Der nackte Mensch fühlt sich so ungeschützt und ausgeliefert, wie er von Natur aus ist. Das Wagnis der Nacktheit - in jedem Sinne - einzugehen, ist der riskanteste, weil schutzloseste Weg, sich damit vertraut zu machen, dass man tatsächlich über alles verfügt, dessen es bedarf, um zu leben. Indem man sich seiner Nacktheit aussetzt, erfährt man, dass man selbst es ist, von dem alles abhängt, dessen man bedarf, um sich zu behaupten: nichts als man selbst, ist zugleich alles, worüber man verfügen kann.

Oder umgekehrt: es gibt nichts, womit man den Anforderungen und Möglichkeiten des eigenen Lebens begegnen kann, als das, womit man ausgestattet ist, oder sich selbst ausstattet. Für sein Leben bringt man nichts mit außer, was man ist. Und nur das kann man werden. Darin gründet das Unbehagen, sich außerhalb erotischer Situationen anderen nackt zu zeigen: es ist die Probe darauf, ob das, was man ist, ausreicht, gegen die anderen zu manifestieren, was man ist. Wer diese Probe fürchtet, dem wird der Spiegel, der Stellvertreter des Blicks des Anderen, zum Feind.

Das wichtigste Werkzeug eines eigenen Lebens ist immer: man selbst, in der Einheit von Werkstoff und Werkmeister. Das Filmbild bestätigt die Statik der Fotografie. Es versetzt den beispielhaften Menschen in seinem Zustand des ‚Nichts-als-man-selbst’ in der Begegnung mit einem einzelnen Gegenstand als Repräsentant der kulturellen Dingwelt in eine minimale, kaum bemerkbare Bewegung.




Literatur
Kennedy, A.L., Alles was du brauchst. Roman (1999), Berlin 2002
Pavese, Cesare, Nacktheit (1944), in: ders., Sämtliche Erzählungen, dt. von Charlotte Bierbaum, Hamburg:
Claassen Verlag 1966, 517-525

/// Ausstellung,  WERKZEUGE DES LEBENS,
Deutsches Werkzeugmuseum, Gruppenausstellung,

Kuration Andreas Steffens
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/// Ausstellung, Nordart, Kunst in der Carlshütte,

Gruppenausstellung, Kuration Wolfgang Gramm, Inga Aru

Copyright Anne-Louise Frei
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